Als Neurodivergente Eltern reagiert ihr manchmal nicht so, wie ihr eigentlich möchtet oder wie andere es von euch erwarten? Das kommt leider häufiger vor, als wir uns das eingestehen wollen. Als neurodivergente Person – egal ob jetzt ADHS, Autismus oder was auch immer – haben wir andere Bedürfnisse als neurotypische Personen. Wir sind schnell reizüberflutet, können laute Geräusche nicht gut ab, haben Probleme im Haushalt (exekutive Dysfunktion lässt grüßen), leiden vielleicht obendrein unter PDA*.
Als Eltern müssen wir ja trotzdem im Alltag funktionieren. Kinder brauchen Essen, Pflege, eine ordentliche Umgebung, Wärme und Geborgenheit. Und da geht es oft schon los. Wenn dein Kind kuscheln will, du aber gerade Umarmungen oder Berührungen generell nicht gut verträgst, weil sie dich überfordern. Und schon stehst du vor einem Dilemma: Gehst du jetzt auf die Bedürfnisse von deinem Kind ein, kuschelst, und riskierst einen Meltdown für dich? Oder achtest du auf deine eigenen Bedürfnisse, hältst Abstand und kuschelst nicht – und riskierst, dass dein Kind mit der Situation überfordert ist und anfängt zu weinen. Was dann wiederum deine Reizfilterschwäche mit der ansteigenden Lautstärke wieder triggert.
Sagen wir es, wie es ist: Als neurodivergente Eltern haben wir es nicht leicht. Oft haben wir nur die sprichwörtliche Wahl zwischen Pest und Cholera. Welches ist in der vorliegenden Situation das kleinere Übel. Und sehr oft können wir uns nur falsch entscheiden. Entweder ist es für das Kind falsch oder für uns falsch.
Sind nicht nur die Eltern, sondern auch die Kinder neurodivergent, kann das Familienleben zu einem wahren Pulverfass werden.
Was bedeutet Neurodivergenz?
Neurodivergent ist ein Begriff, der verwendet wird, um Menschen mit neurologischen bzw. neurobiologischen Unterschieden zu beschreiben. Die Idee dahinter ist, dass unsere Gesellschaft eine Vielfalt von Gehirnkonfigurationen umfasst, die unterschiedliche Denk- und Wahrnehmungsweisen hervorbringen.
Menschen, die als neurodivergent bezeichnet werden, können verschiedene Störungsbilder aufweisen. Zum Beispiel:
- ADHS
- Autismus-Spektrum-Störung
- Tic-Störungen
- Dyslexie
- Schizophrenie
- und mehr
Im Prinzip betont Begriff „neurodivergent“ die Einzigartigkeit und Wertigkeit dieser individuellen Unterschiede. Das Ziel dahinter ist, ein Verständnis dafür zu schaffen, dass neurodivergente Menschen nicht „defekt“ sind, sondern ihr Gehirn lediglich anders funktioniert. Sie haben eine andere Art zu denken und Informationen zu verarbeiten.
Warum ist das Thema wichtig?
Obwohl das Thema Neurodivergenz aktuell ordentlich Aufmerksamkeit erlebt, werden die besonderen Herausforderungen, welche neurodivergente Eltern und Kinder erleben, oft noch übersehen. Besonders im Familienalltag. Durch die besonderen Bedürfnisse auf beiden Seiten sind sowohl Eltern als auch Kinder mit vielen Situationen überfordert.
Sie reagieren auch oft anders als neurotypische Familien in ähnlichen Situationen. Was dann häufig zu Vergleichen führt, denen neurodivergente Eltern und auch neurodivergente Kinder einfach nicht standhalten können. Und das stößt leider sehr oft noch auf wenig Verständnis.
Neurodivergente Eltern: Auch Erwachsene haben Bedürfnisse
Neurodivergente Menschen haben spezielle Bedürfnisse. Sie nehmen die Welt anders wahr, verarbeiten Informationen anders – entsprechend geht ihnen dieses Anders-Sein auch an die Substanz. Das ist bei neurodivergenten Eltern nicht anders, im Gegenteil. Denn oft werden ihre Triggerpunkte von den eigenen Kindern getroffen, denen sie dann nicht einfach aus dem Weg gehen können.
Neurodivergente Eltern reagieren sensibel auf laute Geräusche oder Berührungen. Wer Kinder hat, weiß, das lässt sich mit ihnen nicht vermeiden. Umso kritischer, wenn diese Reize bei den Eltern Unwohlsein oder im schlimmsten Fall sogar einen Meltdown auslösen.
Besonders mit kleinen Kindern sind auch Routinen und immergleiche Abläufe schlecht einzuhalten. Das kann gerade für Autist*innen schlecht sein, für die feste Abläufe sehr wichtig sind.
Die eigenen Emotionen zu regulieren fällt neurodivergenten Menschen ohnehin schwer bis unmöglich. Zu den eigenen aber auch noch die der Kinder zu regulieren
Herausforderungen für neurodivergente Eltern
Neurodivergente Eltern erleben oft eine intensive emotionale Welt, die von Höhen und Tiefen geprägt ist. Emotionale Dysregulation kann es schwierig machen, die eigenen Gefühle zu kontrollieren und angemessen zu reagieren. Dies kann zu Konflikten führen, da es für die Kinder manchmal schwierig sein kann, die Stimmung ihrer Eltern richtig zu interpretieren. Doch das sind nicht die einzigen Herausforderungen.
Reizfilterstörung: Wenn die Sinne überwältigt werden
Die Überempfindlichkeit gegenüber sensorischen Reizen kann für und neurodivergente Eltern zu einer echten Herausforderung werden. Alltägliche Geräusche, Gerüche oder visuelle Reize können ohnehin schon oft überwältigend sein und unsere Fähigkeit beeinträchtigen, uns zu konzentrieren oder ruhig zu bleiben. In einer hektischen Umgebung mit kleinen Kindern kann dies besonders belastend sein. Denn wir wissen alle: Das Leben mit Kindern ist laut, es ist bunt, es ist chaotisch.
Überforderung bei Körperkontakt: Grenzen respektieren
Für uns neurodivergente Eltern kann zu viel Körperkontakt überfordernd sein. Der Bedarf nach persönlichem Raum und Ruhephasen ist wichtig, um sich zu regenerieren und den Akku zwischendurch wieder vollzutanken und die eigene Ruhe wiederzufinden. Das kann jedoch eine Herausforderung sein, insbesondere wenn Kinder im jungen Alter sind und noch nicht vollständig verstehen, warum ihre Eltern sich manchmal zurückziehen müssen. Hier können Freunde, Partner, Großeltern – oder auch Nachbarn, mit denen man sich gut versteht – unter die Arme greifen und neurodivergenten Eltern ein paar Minuten freischaufeln, wenn diese von der Situation überwältigt sind und dringend eine Auszeit brauchen.
Die Balance zwischen Selbstfürsorge und Elternschaft
Die Fähigkeit, sich bei Bedarf zurückzuziehen und um sich selbst zu kümmern, kann für uns neurodivergente Eltern schwierig sein. Kleine Kinder benötigen ständige Aufmerksamkeit und Betreuung, was es herausfordernd macht, persönliche Grenzen zu wahren. Mit älteren Kindern oder Jugendlichen, die bereits Verständnis haben, kann es leichter sein, Momente der Selbstfürsorge für sich einzubauen.
Die Stärke und Empfindsamkeit neurodivergenter Eltern
Trotz der Herausforderungen, denen neurodivergente Eltern gegenüberstehen, sollten ihre Stärke und Empfindsamkeit nicht übersehen werden. Neurodivergente Eltern bringen einzigartige Perspektiven, Kreativität und bedingungslose Liebe in die Erziehung ihrer Kinder ein. Mit Unterstützung, Verständnis und Selbstfürsorge können sie eine starke und liebevolle Verbindung zu ihren Kindern aufbauen.
Bedürfnisse neurodivergenter Kinder
Neurodivergente Kinder können ein erhöhtes Sicherheitsbedürfnis haben, um sich in einer reizvollen Umgebung besser zurechtzufinden. Dazu gibt es einige Möglichkeiten, auf Dein Kind einzugehen:
- ruhige und strukturierte Räume schaffen, in denen sich die Kinder (und auch die Eltern) wohlfühlen können.
- Rückzugsorte schaffen oder zeigen, an die sich die Kinder bei Bedarf zurückziehen können – und ihnen dann auch die Möglichkeit geben, dies zu tun. Das kann besonders bei Familientreffen wichtig sein.
- Auch Möglichkeiten zur Selbstregulation sollten akzeptiert werden, wie das Tragen einer Sonnenbrille oder von Kopf- oder Ohrhörern.
Was uns direkt zu den Empfindlichkeiten bzw. Sensibilitäten von neurodivergenten Kindern bringt.
Empfindlichkeit gegenüber Textur und Geräuschen: Auf die Sinneswahrnehmung achten
Neurodivergente Kinder können besonders empfindlich auf die Textur von Kleidung oder Nahrungsmitteln reagieren. Viele – besonders jüngere Kinder – können das aber noch nicht verständlich erklären und äußern es meist mit „Mag ich nicht“, was oft einfach als schlichte Weigerung verstanden wird. Wenn du also weißt, dass du oder dein Kind neurodivergent sind, dann lohnt es sich, hier genauer nachzufragen, warum es etwas nicht mag und vor allem was es daran nicht mag.
Bei Kleidung, lass deine Kinder mitentscheiden, was sie mögen oder nicht. Wenn du selbst auch neurodivergent bist, kennst du das Dilemma vielleicht: Nähte oder Schilder kratzen unerträglich auf der Haut, Stoff fühlt sich steif und kratzig an oder knistert unerträglich laut bei jeder Bewegung. Diese Details halten viele neurotypische Menschen für unwichtig. Für Personen, die hierauf aber sensibel reagieren, kann das aber die Hölle sein.
Was hilft im neurodivergenten Familienalltag?
In einer neurodivergenten Familie ist es entscheidend, einen unterstützenden und inklusiven Familienalltag zu gestalten. Wir als Eltern spielen eine zentrale Rolle dabei, auf die Bedürfnisse unserer Kinder einzugehen, aber auch für uns selbst einzustehen und anderen Menschen unsere Herausforderungen und Grenzen zu verdeutlichen.
Empathie und Verständnis sind dabei die wichtigsten Schlüssel, in einer neurodivergenten Familie wertschätzend und vor allem auch fördernd miteinander umzugehen. Die jeweiligen Bedürfnisse verstehen und akzeptieren, aktiv zuhören und gemeinsam Lösungen finden.
Das gilt aber nicht nur für unsere Kinder, sondern auch für uns selbst. Auch wir dürfen unseren älteren Kindern ehrlich erklären, warum wir gerade mal eine Kuschelpause brauchen. Oder warum wir uns von lautem Spiegel kurz zurückziehen müssen. Ohne Selbstfürsorge gehen wir nämlich ziemlich schnell auf dem Zahnfleisch und damit ist weder unseren Kindern noch uns selbst geholfen.
Jetzt zu dir: Was sind deine Herausforderungen?
Du bist selbst neurodivergent oder lebst in einer neurodivergenten Familie? Wie erlebst du den Alltag? Wie gehst du mit den Herausforderungen um und was sind deine Tricks? Teil deine Erfahrung mit uns in den Kommentaren!
Häufige Fragen
Neurodivergenz bedeutet, dass jeder Mensch anders denkt und fühlt. Neurotypisch bedeutet, dass jemand so denkt und fühlt, wie es die meisten Menschen tun. Der Unterschied ist, dass neurodivergente Menschen anders denken und fühlen als die meisten Menschen.
Neurodivergente Bedingungen können bei Eltern und Kindern auftreten. Dazu gehören Autismus, Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), Dyskalkulie, Legasthenie, Dyspraxie und Hochbegabung. Es gibt auch andere Bedingungen wie Tourette-Syndrom, Down-Syndrom, Epilepsie, Zwangsstörungen, Persönlichkeitsstörungen, Stimmungsstörungen und Angststörungen. Jede Diagnose, die auf einen Unterschied im Gehirn hinweist, kann als neurodivergent betrachtet werden.
Neurodivergente Eltern können in bestimmten Situationen anders reagieren als neurotypische Eltern, weil sie Informationen auf eine andere Art und Weise verarbeiten, weil ihre Gehirne anders funktionieren.
Neurodivergenz ist keine Krankheit oder Störung, sondern eine natürliche Variante der menschlichen Gehirnvielfalt. Es gibt viele positive Aspekte von Neurodivergenz, wie z.B. eine einzigartige Art der Kreativität oder eine tiefere Konzentration auf bestimmte Themen.
Allerdings können die Einschränkungen der Neurodivergenz für Menschen so belastend sein, dass sie wiederum als Behinderung gilt und die betroffenen Personen in bestimmten Bereichen Unterstützung benötigen.
Als neurotypischer Elternteil oder Betreuer kann man neurodivergente Kinder besser verstehen und fördern, indem man sich darauf einlässt, wie ihr Denken funktioniert. Man kann Unterricht und Lehrmittel so anpassen, dass auch für neurodivergente Kinder ein effizientes und effektives Lernen möglich ist1. Es ist wichtig, dass man ihnen hilft, ihre Stärken zu entdecken und zu nutzen.