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Neurodivergenz, Kinks und Dopamin

Triggerwarnung:

Auf dieser Seite geht es nicht nur um Neurodivergenz, sondern auch um Sex, Stimulation, BDSM und ähnliche Themen. Es ist völlig okay, wenn du ab hier nicht weiterlesen möchtest – es gibt genug andere lesenswerte Seiten auf Pretty Weird Life! Falls du doch interessiert bist: Viel Spaß beim Lesen!

Wusstest du, dass ziemlich viele Menschen mit ADHS ihr Sexleben ein wenig mehr… „spicy“ mögen? Oder dass recht viele Menschen in der BDSM-Szene neurodivergent sind? Nein? Dann geht es dir wie vielen. Ich bin auch eher durch Zufall vor einiger Zeit darüber gestolpert und fand das Thema so spannend, dass ich weiterrecherchiert habe. Und Ladies, Gents and all inbetween – sind wir mal ehrlich: Das Thema ist schon verdammt spannend!

Nicht, dass wir uns falsch verstehen: Die Feststellung, dass zwischen Kinks und Neurodivergenz eine Verbindung bestehen kann, heißt auf keinen Fall, dass jeder kinky Mensch neurodivergent ist oder jeder neurodivergente Mensch kinky! Es gibt genügend Menschen, die nicht in die jeweils andere Kategorie gehören. Denk nur an asexuelle Neurodivergente! Nein, wie auch sonst beim Thema Neurodivergenz geht es nicht um Schubladendenken. Aber ich finde, diese Zusammenhänge sind es wert, dass man darüber spricht – besonders, weil beide Themen für sich genommen schon mit einer Menge Scham behaftet sind. Und dem können wir nur mit Information und Aufklärung entgegenwirken.  

Grundlegende Begriffe und Konzepte

Bevor wir so richtig einsteigen, lass uns erst einmal ein paar grundlegende Begriffe klären. Nicht immer meinen alle das Gleiche, wenn sie von „Kink“ oder „BDSM“ sprechen. Um hier aber zumindest ein paar der gängigsten Begriffe einmal auf gleicher Basis zu haben, gibt’s hier einen kleinen Überblick: 

  • Kink: Ein Überbegriff für unkonventionelle sexuelle Praktiken, Konzepte und Fantasien. Was genau als „kinky“ gilt, variiert individuell und kulturell – von Bondage bis hin zu bestimmten Rollenspielen.
  • Fetisch: Ein spezifisches Objekt, eine Handlung oder ein Konzept, das für eine Person stark erregend oder befriedigend ist. Nicht alle Fetische beinhalten Sexualität; einige sind rein emotional oder psychologisch.
  • BDSM: Steht für Bondage & Discipline, Dominance & Submission, Sadism & Masochism. Ein Akronym für eine Vielzahl von sexuellen Praktiken und Beziehungskonzepten, die oft mit Machtaustausch und konsensueller Gewalt verbunden sind.
  • Consent (Einvernehmlichkeit): Ein zentrales Konzept in der Kink- und BDSM-Community. Es bedeutet, dass alle beteiligten Personen ausdrücklich und ohne Druck oder Manipulation ihre Zustimmung zu einer Aktivität geben.
  • SSC (Safe, Sane, Consensual): Ein Prinzip, das in der BDSM-Community verwendet wird, um sicherzustellen, dass Aktivitäten sicher, vernünftig (mental stabil und reflektiert) und einvernehmlich sind.
  • RACK (Risk-Aware Consensual Kink): Ein Konzept, das auf SSC aufbaut und anerkennt, dass manche Praktiken Risiken beinhalten. Der Fokus liegt darauf, diese Risiken bewusst und informiert einzugehen.
  • Aftercare: Die Zeit nach einer BDSM-Session, in der sich die Beteiligten umeinander kümmern, um emotionale oder physische Auswirkungen zu verarbeiten und sich zu beruhigen. Das kann Kuscheln, Reden oder andere Formen von Zuwendung beinhalten.
  • Trigger: Reize oder Erfahrungen, die eine emotionale oder traumatische Reaktion hervorrufen können. Es ist wichtig, potenzielle Trigger in Gesprächen oder Sessions zu berücksichtigen.
  • Vanilla: Ein Begriff, der verwendet wird, um sexuelle oder romantische Aktivitäten zu beschreiben, die als „konventionell“ oder nicht-kinky angesehen werden.
  • Hard Limits: Aktivitäten, die für eine Person absolut tabu sind und in keiner Situation akzeptabel wären.
  • Soft Limits: Aktivitäten, die möglicherweise unter bestimmten Umständen akzeptabel sind, aber ansonsten zurückhaltend betrachtet werden.

Neurobiologische Grundlagen

Wenn wir über Neurodivergenz und Stimulation in Verbindung mit Kink sprechen, sollten wir uns auch ansehen, woher denn das Faible dafür kommt. Lass uns einen Blick hinter die Kulissen werfen – und zwar direkt in unser Gehirn. Denn hier finden sich einige wirklich spannende Connections zwischen Neurodivergenz und dem Interesse an Kink.

Dopaminsystem bei Neurodivergenz

Unser Dopaminsystem spielt eine zentrale Rolle – und das nicht nur für unsere Motivation und Konzentration, sondern auch für unsere Erlebnisfähigkeit und Erregung. Bei ADHS und Autismus tickt dieses System anders, was sich direkt auf unser Erleben, unsere Bedürfnisse und unsere Art der Reizverarbeitung auswirkt. 

ADHS-spezifische Dopamin-Aspekte:

  • Der präfrontale Cortex zeigt oft eine verminderte Dopamin-Ausschüttung, was die typische ADHS-Symptomatik neurobiologisch erklärt
  • Diese reduzierte Dopamin-Verfügbarkeit führt zu charakteristischen Herausforderungen bei Aufmerksamkeitssteuerung, Impulskontrolle und der Fähigkeit zur strukturierten Planung von Aktivitäten
  • Als Kompensation entwickelt sich häufig ein verstärktes Verlangen nach intensiver Stimulation und unmittelbaren Belohnungsreizen, um den Dopamin-Mangel auszugleichen
  • Intensive BDSM-Praktiken können möglicherweise als Form der „Selbstmedikation“ fungieren, indem sie durch gezielte Reize eine starke Dopamin-Ausschüttung bewirken

Autismus-spezifische Dopamin-Aspekte:

  • Die „Intense World Theory“ beschreibt eine fundamentale Besonderheit in der Reizverarbeitung autistischer Menschen, die sich auch im Dopamin-System widerspiegelt
  • Eine erhöhte Dopamin-Aktivität in bestimmten Hirnregionen führt zu einer gesteigerten Sensibilität für verschiedenste Sinneseindrücke und Reize
  • Diese neurobiologische Besonderheit kann einerseits zu schneller Überforderung führen, ermöglicht andererseits aber auch ein besonders tiefes und intensives Erleben von Erfahrungen
  • BDSM-Praktiken können in diesem Kontext als kontrollierte Umgebung dienen, in der diese intensive Wahrnehmung bewusst genutzt und gesteuert werden kann, statt als überwältigend erlebt zu werden

Die Rolle von Stimulation und Erregung

Viele Menschen im Autismus- oder ADHS-Spektrum berichten von einem erhöhten Bedürfnis nach Stimulation und intensiven Erlebnissen. Sei es durch körperliche Reize, emotionale Erfahrungen oder geistige Herausforderungen. Vanilla-Sex reicht da manchmal einfach nicht aus, um auf ein befriedigendes Erregungsniveau (Arousal) zu kommen.

Wusstest du...

… dass viele neurodivergente Menschen (z. B. mit ADHS) häufig Probleme haben, zum Orgasmus zu kommen? Auch das liegt an der unterschiedlichen Arbeits- und Wahrnehmungsweise unserer Gehirne. Ja, Neurodivergenz macht auch vor Sex nicht Halt. Mitten beim Sex plötzlich an die Bügelwäsche denken oder anmerken, dass die Zimmerdecke gestrichen werden muss? Absoluter Abtörner, aber leider alles andere als ein Einzelfall. Die Stimulation reicht dann einfach nicht aus, um unseren Fokus im Hier und Jetzt zu halten. 

Mit wechselnder Art oder Intensität der Stimuli hingegen, erreicht unser Gehirn einen höheren Dopaminspiegel – und wir unseren heiß ersehnten Höhepunkt. 

BDSM bietet hier eine Fülle an Möglichkeiten: Von Sinnesreizen wie Schmerz, Druck, Temperatur über psychologische Stimulation durch Dominanz und Submission bis hin zur Erfüllung komplexer Fantasien. Und die damit verbundene Dopamin-Ausschüttung kann nicht nur extrem befriedigend sein, sondern nebenbei auch Symptome wie Unruhe oder Konzentrationsprobleme lindern.

Aber Vorsicht: Zu viel des Guten führt schnell zu Übererregung und Reizüberflutung. Deshalb ist es wichtig, die eigenen Grenzen genau zu kennen und Pausen zu machen. Sonst droht hinterher ein heftiger Drop – der Absturz, wenn die Erregung abflacht.

Sensorische Verarbeitung und ihre Besonderheiten

Viele Neurodivergente nehmen Sinnesreize anders wahr als Neurotypische. Berührungen, Gerüche, Anblicke – all das kann viel intensiver, überraschender oder auch irritierender wirken. Das kann eine Herausforderung im Alltag sein – aber im Kontext von BDSM auch eine Chance für ganz besondere Erfahrungen.

Zum Beispiel berichten manche Neurodivergenten von einer besonderen Empfindsamkeit für bestimmte Materialien wie Seide, Leder oder Pelz. Oder von starken Reaktionen auf Temperaturreize, von Wachs bis Eis. Auch die visuelle Ästhetik von Bondage oder bestimmte Gerüche und Geschmäcker können eine große Rolle spielen.

Nicht jeder mag natürlich jede Sensation. Aber viele Neurodivergente erzählen, dass sie gerade durch diese besondere Sensitivität unglaublich intensive und erfüllende BDSM-Erlebnisse haben können – wenn sie zur richtigen Zeit die richtigen Reize in einem Kontext von Sicherheit und Vertrauen erleben.

Wissenschaftliche Erkenntnisse zu Neurodivergenz und BDSM

Was sagt eigentlich die empirische Forschung zum Zusammenhang zwischen Neurodivergenz und BDSM? Auch wenn dieses spezifische Forschungsfeld noch relativ jung ist, haben wir mittlerweile einige aufschlussreiche Studien, die interessante Korrelationen und Muster aufzeigen. In den letzten Jahren hat sich das wissenschaftliche Interesse an diesem Thema deutlich verstärkt, was zu einer wachsenden Sammlung an Forschungsergebnissen führt. Hier ein systematischer Überblick über den aktuellen Stand.

Aktuelle Studienlage

Die bisherige Forschung zeigt eine bemerkenswerte statistische Häufung von ADHS und Autismus in der BDSM-Community. Auch wenn die absolute Anzahl der Studien noch überschaubar ist, zeichnet sich ein konsistentes Muster ab:

  • Eine wegweisende Online-Umfrage aus dem Jahr 2014 ergab eine ADHS-Prävalenz von 23,6% unter BDSM-Praktizierenden – ein deutlich höherer Wert als die geschätzten 3-5% in der Allgemeinbevölkerung. Diese Studie war eine der ersten, die systematisch nach diesem Zusammenhang suchte.
  • Eine Erhebung unter Mitgliedern der National Coalition for Sexual Freedom zeigte, dass etwa 30% der BDSM-praktizierenden Befragten eine diagnostizierte Aufmerksamkeitsdefizit-Störung aufwiesen. Diese Zahl ist besonders aussagekräftig, da hier nur formelle Diagnosen berücksichtigt wurden.
  • Die bislang umfangreichste Untersuchung von 2019 mit knapp 3.000 Teilnehmenden bestätigte diese Tendenz: 14,4% der BDSM-Praktizierenden und -Interessierten wiesen eine ADHS-Diagnose auf, während 6,1% als autistisch diagnostiziert waren. Diese große Stichprobe verleiht den Ergebnissen besondere Aussagekraft.

Kurz zusammengefasst

Internationale Studien und Untersuchungen zeigen, dass es eine bemerkenswerte Überschneidung zwischen neurodivergenten Menschen und BDSM-Interessierten gibt.

Diskutierte Zusammenhänge

Die Forschung diskutiert verschiedene mögliche Erklärungsansätze für diese statistischen Korrelationen. Die wichtigsten theoretischen Modelle sind:

  • Das „Selbstmedikations-Modell“: BDSM-Praktiken könnten bei ADHS als Form der Selbstregulation dienen, indem sie durch intensive Stimulation den charakteristischen Dopamin-Mangel temporär ausgleichen. Die kontrollierten, intensiven Erfahrungen bieten möglicherweise eine konstruktive Alternative zu riskanteren Formen der Stimulationssuche.
  • Die „Struktur-Hypothese“: Für autistische Menschen könnte der klar strukturierte, regelbasierte Rahmen von BDSM eine entlastende Wirkung haben. Die expliziten Aushandlungsprozesse und definierten Rollen reduzieren soziale Ambiguität und schaffen Vorhersehbarkeit.
  • Der „Nonkonformitäts-Faktor“: Die geringere Orientierung an gesellschaftlichen Normen, die viele Neurodivergente zeigen, könnte zu einer größeren Offenheit gegenüber alternativen Formen der Sexualität und Beziehungsgestaltung führen.
  • Die „Sensorische-Suche“: Das bei vielen Neurodivergenten beobachtete aktive Suchen nach spezifischen sensorischen Erfahrungen könnte BDSM als Möglichkeit der kontrollierten Intensitätserfahrung besonders attraktiv machen.
  • Das „Spektrums-Modell“: Die spezifischen sexuellen Präferenzen und Fantasien könnten als integraler Teil des neurodivergenten Erlebens verstanden werden, analog zu anderen Besonderheiten in Wahrnehmung und Verarbeitung.

Selbstregulation und Stimulation

Kommen wir zu einem wichtigen praktischen Aspekt: Wie kann BDSM zur Selbstregulation bei Neurodivergenz beitragen? Und wo sind die Grenzen?

Viele Neurodivergente berichten, dass BDSM-Praktiken ihnen helfen können, ihr Erregungsniveau zu regulieren, zur Ruhe zu kommen oder sich zu fokussieren. Die intensiven Reize und Erfahrungen scheinen eine Art Reset zu bewirken.

Bondage und Fesselungen zum Beispiel können ein Gefühl von Halt und Begrenzung geben, das sehr beruhigend wirkt. Schmerzreize wie Spanking oder Nadelspiele können den Überschuss an  Energie und Anspannung entladen – ähnlich wie bei der Selbststimulation. Sensorische Deprivation, z.B. durch Augenbinden und Gehörschutz, kann helfen sich zu fokussieren. Und Dominanz/Submission-Spiele bieten einen sicheren und vereinfachten Handlungsrahmen, in dem man Verantwortung und Kontrolle abgeben kann.

Wie genau BDSM für die Selbstregulation genutzt werden kann, ist natürlich sehr individuell. Nicht jeder Reiz wirkt auf jeden gleich. Da heißt es ausprobieren, die eigenen Reaktionen beobachten und justieren.

Dabei ist immer zu beachten

  • Sichere Rahmenbedingungen sind essentiell, um negative Überstimulation oder Retraumatisierung zu vermeiden.
  • Nach intensiven Sessions ist Aftercare nötig, um sanft wieder „runterzukommen“ und sich zu erden.
  • BDSM ist kein Ersatz für Therapie oder Medikation, sondern bestenfalls eine Ergänzung dazu.
  • Grenzen zu setzen und auch mal Nein zu sagen, gehört dazu. Nur du selbst weißt, was gerade gut für dich ist.

Masking und Authentizität

Ein Aspekt, der immer wieder diskutiert wird, ist der Zusammenhang von Masking und BDSM. „Masking“ beschreibt ja die Tendenz vieler Neurodivergenten, ihre natürlichen Verhaltensweisen zu unterdrücken und sich an neurotypische Normen anzupassen, um nicht aufzufallen oder anzuecken.

Viele Neurodivergente kennen das: Im Alltag bemühen wir uns „normal“ zu erscheinen, nicht zu sehr aus der Reihe zu tanzen. Wir kontrollieren unsere Stimms, unsere speziellen Interessen, unsere intensiven Reaktionen. Das kostet enorm viel Kraft – und hinterlässt oft das Gefühl, nicht wirklich man selbst sein zu können.

BDSM als Raum der Befreiung

Vor diesem Hintergrund kann BDSM ein besonderer Raum der Authentizität sein. Hier gelten andere Regeln, hier ist es nicht nur erlaubt, sondern erwünscht „weird“ zu sein, die eigenen Bedürfnisse und Eigenheiten auszuleben. Plötzlich müssen wir uns nicht mehr verstecken.

In BDSM-Kontexten können Autisten vielleicht endlich ungehemmt stimmen und sich bewegen, wie es für sie natürlich ist. ADHSler können ihre Hyperfixierung auf bestimmte Fetische oder Praktiken offen ausleben. Menschen mit sensorischen Besonderheiten nutzen diese gezielt zur Lustgewinnung, statt sie zu unterdrücken. Dominante mit Autismus entdecken vielleicht, wie sie ihre direktive und regelgeleitete Art positiv einsetzen können. Und submissive Neurodivergente finden möglicherweise in der Hingabe und dem Loslassen einen Weg, ihrem Bedürfnis nach Klarheit und Entlastung nachzukommen.

Grenzen und Chancen

Natürlich ist BDSM kein Allheilmittel gegen die alltäglichen Anstrengungen des Masking. Auch in der Szene gibt es Normen und Erwartungen. Aber zumindest punktuell kann Kink ein Ventil sein, um die Maske fallen zu lassen und ganz man selbst zu sein – exzentrisch, obsessiv, widersprüchlich, aber dafür authentisch.

Für manche neurodivergenten Menschen ist das eine der wichtigsten Erfahrungen, die sie durch BDSM machen: Dass sie okay sind, so wie sie sind. Dass ihre Bedürfnisse und Eigenarten nichts sind, wofür sie sich schämen müssen. Sondern dass sie im Gegenteil eine Quelle von Lust, Verbindung und Wachstum sein können – wenn man den Mut hat, sie zu zeigen und zu teilen.

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