Hast du schon mal von der Löffel-Theorie gehört? Nein? Dann wird es Zeit, dass wir darüber sprechen.
Viele Menschen machen sich keine Gedanken, wie viel Energie sie jeden Tag aufbringen müssen – bis sie es durch eine Erkrankung nicht mehr regelmäßig schaffen. Für neurodivergente Menschen ist dieser Zustand meist die Werkseinstellung. Ob sie es wissen oder nicht. Wenn Menschen mit zum Beispiel ADHS oder Autismus neurotypischen Menschen erklären wollen, warum sie für bestimmte Aufgaben keine Energie mehr haben, stoßen sie oft auf wenig Verständnis.
Was haben jetzt aber Löffel mit dem neurodivergenten Energiehaushalt zu tun?
Was ist die Löffel-Theorie?
Die Löffeltheorie wurde von Christine Miserandino ins Leben gerufen, die versuchte, ihrer Freundin bei einem gemeinsamen Essen auf Nachfrage zu erklären, wie es ist, mit einer chronischen Krankheit zu leben. Sie schnappte sich alle vorhandenen Löffel in der Nähe und reichte sie ihrer Freundin.
Sie erklärte ihr, dass diese für Energie stehen würden und dass die meisten Menschen an den allermeisten Tagen mit einem unendlichen Vorrat an Löffeln aufwachen. Für dieses Experiment hier hast du 12.” Sie ließ sich von ihrer Freundin durch den Tag begleiten und für jede Aufgabe (Aufwachen, Duschen, Zähneputzen, Anziehen, etc.) nahm Christine einen Löffel weg.
Diese Metapher half ihr, ihrer Freundin zu erklären, dass Menschen mit chronischer Erkrankung – so auch sie selbst – nach dem Aufwachen nur eine begrenzte Menge an Energie für den gesamten Tag zur Verfügung haben. Sie muss bei jeder Entscheidung sehr genau nachdenken, ob sie diese Energie jetzt aufbringen kann und mag oder ob vielleicht noch Aufgaben an diesem Tag anstehen, für die sie diese Energie noch dringender bräuchte.
Seit diesem Tag hat Christine Miserandino diese Theorie im Rahmen der Behindertenhilfe angewandt. Mittlerweile nutzen unzählige Menschen mit chronischen Erkrankungen, Behinderungen und Neurodivergenzen die Löffel-Theorie als aussagekräftige Metapher, warum sie sich ihre Energie bewusst einteilen müssen.
ADHS, Autismus und das Energieproblem
Viele Erfahrungen und Eigenschaften von ADHS und Autismus sind nicht weitläufig bekannt. Über Sachen wie chronische Erschöpfung, Burnout und chronische Schmerzen wird selten gesprochen. Viele Faktoren spielen bei diesen Dingen eine Rolle, wie zum Beispiel Reizüberflutung, Überanstrengung, leben in einer Welt die nicht für uns geschaffen ist und vieles mehr.
An guten Tagen überschreiten wir unsere Grenzen meist maßlos, ohne es wirklich zu merken. Es fühlt sich so gut an, etwas geschafft zu kriegen, dass wir uns wieder überlasten, die Signale unseres Körpers übergehen – woraufhin dann meistens unweigerlich ein Absturz folgt. Wir ADHS-ler*innen und Autist*innen sind besonders “gut” darin, unsere Grenzen zu übersehen, zu ignorieren oder nicht zu respektieren. Darauf folgt mit dem Absturz ein Burnout. Je öfter wir diesen Kreislauf durchlaufen und je stärker wir unsere Grenzen ignorieren, desto mehr verfestigt sich dieses Burnout.
Achtung, Abwärtsspirale
Problematisch wird es, wenn daraus ein Lebensstil wird, der regelmäßig zu einem Burnout führt, so dass man aus dieser Phase so leicht nicht mehr selbst herausfindet. Denn es dauert jedes Mal länger, sich von einem Burnout zu erholen, je häufiger wir uns über die Grenzen unseres Körpers hinaus anstrengen. Unsere Emotionen pendeln von leistungsfähig und positiv gestimmt hin zu enttäuscht, depressiv und melancholisch.
Pacing-Systeme helfen, die Energie besser einzuteilen
Sogenannte Pacing-Systeme helfen, die Aktivitäten über den Tag verteilt so einzuteilen, dass man mit der zur Verfügung stehenden Energie auskommt. Als Pacing-System kann im Grunde alles bezeichnet werden, das Betroffenen hilft, ihre Energie nicht nur zu überwachen, sondern auch nachhaltig zu verwalten. Die Löffel-Theorie ist eins dieser Systeme und zählt zu den beliebtesten.
In Bezug auf ADHS und Autismus kann die Löffel-Theorie ein enorm wichtiges Hilfsmittel sein, um die eigenen Bedürfnisse zu verstehen, sie zu kommunizieren und auch für sie einzustehen. So kann sie auf lange Sicht auch helfen, Burnouts zu verhindern und dabei unterstützen, die Energie gleichmäßig zu verteilen.
Bei Neurodivergenten Menschen ist die Löffelschublade meist ungleich eingeteilt und inkonsistent. Wir haben vielleicht genug Energielöffel, aber wenig Konzentrationslöffel. Ode wir haben Soziale Löffel, dafür aber weniger Sensorische Löffel.
Diese Inkonsistenz kann dazu führen, dass unsere Handlungen falsch interpretiert werden. Deshalb hören viele von uns auch Sprüche wie: “Um dich mit Freunden zu treffen hast du Energie, aber um zu Putzen oder die Post zu machen oder mich anzurufen hast du keine!” Das ist für unser Umfeld verständlicherweise frustrierend. Aber für uns ja genauso. Manchmal werden wir als egoistisch oder faul bezeichnet, obwohl dem gar nicht so ist.
Darum ist es für uns AHDS-ler*innen und Autist*innen extrem hilfreich, nicht nur über die Menge unserer Löffel nachzudenken, sondern auch, wie viele uns in einem bestimmten Bereich zur Verfügung stehen (exekutive Funktionen, sensorische Fähigkeiten, soziale Fähigkeiten, usw.).
So können wir unsere Erfahrungen und Bedürfnisse besser kommunizieren.
Verbrauchtes Löffel-Kontingent wieder aufladen
Selbstverständlich haben wir auch prinzipiell die Möglichkeit, unsere Energiespeicher – sprich: unser Löffel-Kontingent – wieder aufzuladen. Indem wir Dinge tun, die uns gut tun und zur Ruhe kommen lassen. Das kann ein Spaziergang sein, ein Mittagsschlaf, Musik oder einen Podcast hören, den eigenen Spezialinteressen nachkommen.
Nicht immer haben wir diese Möglichkeit, besonders im Arbeitsalltag. Deshalb ist es wichtig, auf unseren Energiehaushalt zu achten, ihn gut einzuteilen und zu schauen, ob und wo wir kleine Erholungspausen einbauen können.
Hat dir dieser Beitrag weitergeholfen? Hast du selbst Erfahrung mit eingeschränkter Energie, Burnouts oder nutzt du sogar die Löffeltheorie? Schreib es mir gerne in die Kommentare!